Regina Drummond
 

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RAPHAEL, DER KLEINE VOGEL


Regina Drummond

Melhoramentos Verlag
Übersetzung von Taciana Ottowitz





Die Vorworten in dem Buch sind von dem Dichter Carlos Drummond de Andrade geschrieben.



Juliana und Lilian bekamen einen jungen, frisch geschlüpften Vogel von Onkel Ranulfo. Sie gaben ihm den Namen Raphael und kauften ihm einen goldenen Käfig. Jede freie Minute verbrachten die Mädchen mit dem Vogel: sie verwöhnten ihn und waren von seinen Sprüngen und seinem Gezwitscher begeistert:
„Piep, piep, piep!“
Wie schön Raphael doch sang!
Als er ein kleines Bisschen gewachsen war, brachte Onkel Ranulfo ihm bei, auf dem Finger oder den Schultern der Mädchen zu sitzen, im Garten tief zu fliegen, und sich kokett zu verhalten, wenn er gestreichelt wurde. Da Raphael in einem Käfig geboren worden war, glaubte er, dass die Welt nicht größer als sein Garten war.
Früh morgens sang Raphael, um Juliana und Lilian aufzuwecken:
„Piep, piep, piep!“
„Guten Morgen, guten Morgen!“, sie sprangen aus dem Bett und schrien.
Plötzlich, räumten sie den goldenen Käfig auf und gaben neues Futter und Wasser.
Wenn die Sonne schien, trugen sie den Käfig in den Garten, und wenn es regnete oder kalt war, passten sie auf, dass Raphael es immer warm und gemütlich hatte.
Raphael war sehr glücklich mit ihnen.
Eines Tages aber überlegte er: was gibt es hinter der Mauer? Und dort oben? Der Himmel ist so blau, blau ist so schön, schön sind die Blumen, die Blumen scheinen warscheinlich sehr klein aus der Ferne...
Sind die Bäume aus der Ferne auch so schön? Und Raphael wollte die Sachen von oben sehen: Raphael bekam Lust aufs Fliegen.


Er fragte einen Spatz, der vorbei flog:
„Hei, Freund, ist das Fliegen schön?“
„Schön?“, er lachte. „Es ist wunderschön! Aber du bist ein Vogel; wie kannst du es nicht wissen?“
„Ich bin in einem Käfig geboren. Ich bin nie geflogen. Meine Herrinnen sagen, dass es gefährlich sei, weit weg von zu Hause zu spazieren, dass es Sperber gäbe, die kleine Vögel fressen, dass es schwierig sei, Futter zu finden, dass es regne und es kalt sei, dass es besser sei, hier zu bleiben. Sie kümmern sich schon um mich.
Der Spatz war verblüfft:
„Aber dein Leben ist schrecklich!“
„Schrecklich? Bist du verrückt? Ich lebe in einem hübschen goldenen Käfig, der aussicht, als wäre er aus Gold. Meine Herrinnen lieben mich. Ich habe...
Der Spatz unterbrach ihn:
„Du bist ein Gefangener. Ein goldener Käfig ist immer noch ein Käfig. Ich habe schon Hunger und Kälte erlitten, aber ich bin frei. Ich habe gelernt, mich selbst zu verteidige. Du bist langweilig. Ich gehe jetzt. Tschüss.“
Raphael war sehr verwirrt ... Stimmt es, dass Fliegen so schön ist? Heißt 'Fliegen' Freiheit?
Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden: er musste es ausprobieren.
Als die Mädchen Raphael aus dem Käfig heraus nahmen, sprang er und schlug wie verrückt mit seinen Flügeln.
Aber ... Armer Raphael! Er konnte nicht richtig fliegen, sodass er gegen die Fernsehantenne des Nachbarn prallte: Bumm!
Die Mädchen schrien, da sie dachten, er wäre gestorben. Aber glücklicherweise hatte er sich nur einen Flügel gebrochen.
„Ich glaube, dass Raphael unglücklich ist, Mädchen“, sagte Onkel Ranulfo, als er den Flügel verband. “Lasst ihn ein bisschen weiter fliegen. Wie wäre es, eine Schnur an sein Bein zu binden, sodass er nicht fliehen kann?“
Und so wurde es gemacht.
Aber Raphael fühlte sich nie wieder so glücklich wie zuvor. Sein Traum war es, den Himmel zu erreichen und zu fliegen, fliegen, fliegen...
Er beschloss zu trainieren, um seine Flügel zu stärken.
Als er sich bereit fühlte, durchtrennte er mit seinem Schnabel die Schnur. Dann flog er, und ganz von der Weiten hörte er die Schreie Julianas:


„Raphael, komm zurück, du wirst dich noch mal verletzen, bitte, Raphael, komm zurück...“
Aber er hörte nicht. Die Luft, die er oben einatmete, war blau und süß wie der Himmel ... Die Welt wurde auf ein Mal sehr groß, was ihn erstarren ließ...
„Hier gehöre ich hin!“, schrie er. „Ich möchte nicht mehr in einem Käfig eingesperrt sein! Ich bin ein Vogel!“
Aber zugleich vermisste er die Mädchen. Er hörte immer noch den verzweifelten Schrei von Juliana:
„Raphael, komm zurück!“
Er kam zurück. Aber er zwitscherte auf einem hohen Ast:
„Piep, piep, piep!, ich komme zurück, aber ohne Käfig, bitte! Ich mag euch, piep, piep, piep, aber ich mag den blauen Himmel und die grauen Dächer so sehr...
“Aber Raphael…”, wimmern-ten Lilian, “wer weckt uns am Morgens auf?” Niemand singt so schön wie du...”
“Piep,piep, piep! Ich verspreche euch, Mädchens, ich verspreche, dass ich jeden Tag komme um euch aufzuwecken! Aber lasst mich frei, bitte!”
Sie haben ihn verstanden: sie scrien nicht mehr und verließen die Käfig in dem Abfall.
Und so sang er jedes mal frühmorgens, um Juliana und Lilian aufzuwecken:
„Piep, piep, piep!“
Sie sprangen aus dem Bett:
„Guten Morgen, guten Morgen! Wie geht es dir, lieber Raphael? Hast du gut geschlafen?“
Und sie brachten ihm Vogelfutter und Wasser ans Fenster.
Und, glücklich, erzählten sie ihren Freundinnen in der Schule:
„Wir haben einen kleinen Vogel namens Raphael, wisst ihr? Aber er lebt nicht eingesperrt in einem Käfig, sondern wohnt oben im Himmel und kommt uns jeden Tag besuchen ...“




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